Sonntag, 30. September 2018

 

Warum ich Frauen in grauen Flanellröcken vertraue

 


Dieser Tage habe ich am Bahnhof eine Frau beobachtet, die einen grauen, wadenlangen Flanellrock an hatte. Ich wette, Ihr alle habt schon einmal so jemanden gesehen: Sie tragen Popeline-Jacken, dunkle blickdichte Strumpfhosen, bequeme Schuhe, randlose oder goldgerahmte Brillen und benutzen kein Makeup. Viele sind grauhaarig, man sieht sie bei kirchlichen Aktivitäten oder sie machen klassische Musik. 
Immer, wenn ich so jemanden sehe, fühle ich mich irgendwie geborgen. Diese Frauen haben auf mich diesselbe Wirkung wie auf andere Leute der Weihnachtsmann. Als ich sie zeichnete, dachte ich darüber nach, warum das eigentlich so ist. 
Und da wurde mir klar, woran das liegt: diese Frauen erinnern mich an meine Tante Ruth.
Tante Ruth war die Frau des Halbbbruders meines Großvaters, also eigentlich meine Großtante, und sie war einer der gütigsten Frauen, den je kennenlernen durfte. 
Bei meiner Tante und ihrem Mann aka Onkel Eugen lebte immer irgendein alter Mensch aus der Verwandtschaft- (Tante Ruth hatte eine große Verwandtschaft)-, der pflegebedürftig war. Damals war es noch nicht so üblich, Omma oder Oppa ins Seniorenheim zu geben, aber die Leute wurden eben trotzdem alt. Wenn sich niemand fand, der sich um sie kümmern wollte, sprang Tante Ruth ein, obwohl das für sie und ihre Familie alles andere als leicht war. Ich werde nie vergessen, als wir den 85. Geburtstag meiner Uroma feierten und plötzlich Tante Hetty im Nachthemd an der Kaffeetafel stand. Tante Ruth brachte sie mit Engelsgeduld einfach wieder zurück ins Bett. Meine Uroma hat übrigens auch bei ihr gelebt; sie hat das stolze Alter von 99 Jahren erreicht.
Vielleicht erinnert sich noch jemand an die Boat- People, die vietnamesischen Flüchtlinge, die von der Cap Anamur aufgefischt und in Sicherheit gebracht wurden. Eines Tages wohnte bei Tante Ruth ein Vietnamese namens Tan. Er war durch die Vermittlung der evangelischen Gemeinde in ihre Obhut gekommen. Weil Tante Ruth als junges Mädchen während des Krieges zwei Jahre in England gelebt hatte, nahm jeder an, dass sie sich gut mit ihm verständigen können würde. Leider war das ein Trugschluss, denn er sprach weder Deutsch noch Englisch. Tante Ruth fand trotzdem eine Möglichkeit, mit ihm zu kommunizieren. Er blieb etwa ein dreiviertel Jahr, dann kam seine Familie nach und er hatte die Chance, mit ihr ein neues Leben anzufangen. 
Wenn in der Nachbarschaft eine herrenlose, kranke, verletzte Katze gefunden wurde, wurde sie bei Tante Ruth abgegeben. Manchmal waren es bis zu 10 Katzen, die da mitgefüttert wurden. Das war umso bemerkenswerter, weil Tante Ruth und Onkel Eugen auch Schäferhunde aufnahmen, und zwar die Sorte, die sonst keiner mehr haben wollte, weil sie bissig waren. Außerdem hatte Onkel Eugen ein gigantisches Aquarium mit Zierfischen jeder Art, auf das er sehr stolz war. Es ist niemals ein Hund, ein Fisch oder eine Katze zu Schaden gekommen. 
In ihren letzten Jahren hatte Tante Ruth Alzheimer, zum Schluss war es wirklich schlimm. Bei ihrer Pflege bekamen ihr Mann und ihr Sohn Unterstützung von der gesamten Nachbarschaft und ihrer Kirchengemeinde. Da soll mal einer sagen, das mit dem Karma sei vollkommener Blödsinn! Auf ihrer Beerdigung waren bestimmt hundert Leute, mehr als bei dem Begräbnis des Bürgermeisters.
So unscheinbar sie aussah und so leise sie sprach: für mich war sie selbst in meiner schlimmsten pubertären Trotzphase ein Vorbild, denn sie war immer bemüht, anderen Menschen gerecht zu werden und keine Vorurteile zu haben. 
Das war selten in ihrer Generation. 

Sie war ein ganz besonderer Mensch.
 
 


Mittwoch, 12. September 2018

12 von 12

September 2018

1.



Seit zwei Wochen sind hier in NRW die Schulferien vorbei, und meine beiden Teenagerinnen sind jetzt schon wieder urlaubsreif. Entweder sie sind müde, oder sie sind mies gelaunt, oder beides.

2.

 



Mir käme ein Urlaub aber auch recht. Gegenüber von uns wird ein Parkplatz gebaut, zur Zeit bringen sie den Unterbau ein. Es scheint ein Naturgesetz zu sein, dass Verdichtungsgeräte am besten morgens um sieben funktionieren, also hüpft meine Teetasse vor mir auf dem Frühstückstisch herum.

3.

 

Mir fällt ein, dass heute 12 von 12 ist, also packe ich meinen Skizzenkram zusammen, um für alles gerüstet zu sein.

4.

 

Ich habe eine neue Playlist, die ich im Auto höre. Am Samstag war ich in Düsseldorfs schönsten Biergarten, da liefen wunderbare Funk- Songs aus den Achtzigern. Das wollte ich auch! Deswegen höre ich jetzt Kool and the Gang, Stevie Wonder und die Titelmelodie von "Shaft". Wie sagt der Rheinländer: "Hauptsache, et gruuvt!"

5.

 



Vor einem italienischen Café, an dem ich jeden Morgen vorbeikomme, sitzt immer ein Rentner bei Zigarette und Espresso. Er ist jedesmal sehr sorgfältig gekleidet. Am besten gefällt mit, dass er seine Kopfbedeckungen farblich mit seinem Outfit abstimmt. Früher waren es Basecaps, seit einiger Zeit trägt er Borsalino- Hüte in allen Farben. Er sieht ein bisschen aus wie Truman Capote in seinen letzten Jahren. Heute war die Farbe des Tages Rot. 

6.

 



Ich habe eine kleine silberne Tasche ersteigert, die heute geliefert wird. Ich versuche, nicht allzu euphorisch im Büro herumzuhüpfen, nachdem ich sie ausgepackt habe.

7.

 


So, jetzt ist Schluss mit lustig, auch ich muß etwas tun für mein Gehalt. Also geht es über die Baustellen, um zu gucken, ob auch alle tun, was sie sollen. 

8.

 



Unterwegs sehe ich den Dauerläufer. Der ist hier in der Gegend eine lokale Berühmtheit, denn er läuft jeden Morgen ungefähr 30 Kilometer durch die angrenzenden Städte Solingen, Langenfeld, Monheim und Hilden. Das macht er erst, seit er in Rente ist; in seinem früheren Leben war er Kassierer bei einer Bank. Mittlerweile ist er so hager wie eine Mumie, hat sich ein Tatoo zugelegt und wird von örtlichen Sportgeschäften gesponsored. 

9.

 



Nach der Mittagspause fahre ich mit dem Rad in die Stadt, weil eine Versicherung uns eine Rückzahlung per Verrechnungsscheck zugeschickt hat. Das ist natürlich wunderbar old-school, aber ich muß tatsächlich zur Bank, um den Scheck einzureichen. Ich nutze die Gelegenheit, mir einen hellgelben Nagellack zu gönnen.

10.

 



Wo ich schon mal da bin, löse ich meinen Geburtstagsgutschein in der Buchhandlung ein. Meine Mutter schenkt mir das zu jedem Anlaß und hat jedes Mal ein schlechtes Gewissen, weil sie das eigentlich unpersönlich findet. Dabei ist es für mich ein Fest, mir so richtig viel Lesefutter aussuchen zu können.

11.

 


Es nutzt alles nichts, ich muß zum Friseur. Also rufe ich an und mache einen Termin. Meine Lieblingsfriseurin ist vor einem dreiviertel Jahr mit einem Schlaganfall im Laden umgekippt und mußte nach langer Krankheit ihren Laden aufgeben. Seither probiere ich andere Salons aus und bin regelmäßig enttäuscht. Vielleicht wird es dieses Mal der große Wurf.

12.

 



Es ist Fütterungszeit, deswegen wird der Hund aufdringlich. Ich werde das arme Tier jetzt vor dem Hungertod bewahren.




Freitag, 7. September 2018

 

Keule macht Beule

Tourismus im Neandert(h)al

Identitätsstiftendes Grafitti unter der Autobahnbrücke

Dieser Tage war ich noch einmal im Neandertal.
Nein, das ist natürlich keine Sensation, das weiß ich auch! 
Ich besuche das Neandertal eigentlich schon seit meiner Kindheit. Ich war mit meinen Großeltern da, ich war mit meinen Eltern da, ich war mit der Schule da, ich war mit meinem Mann da, ich war mit Kommolitonen da und ich war mit meinen Kindern da. So etwas nennt man wohl einen Tourismusdauerbrenner.
Das Neandertal ist der tatsächliche Fundort des Neandertalers, war aber vorher schon ein beliebtes Ziel für Naturfreunde aus Düsseldorf und Umgebung. Benannt ist es nach dem Reformtheologen Joachim Neander (eigentlich hieß er Neumann, 1650- 1680). Er war 1674 Rektor an der Lateinschule in Düsseldorf und schrieb und komponierte pietistische Kirchenlieder. Bekannt ist der Choral "Lobet den Herren, den mächtigen König der Ehren", ein Evergreen in protestantischen Gottesdiensten. Herr Neander predigte gern in einer Schlucht in der Nähe von Mettmann unter freiem Himmel: voilà, so kam das Neandertal zu seinem Namen. Den behielt es auch, als der Namensgeber 1679 nach Bremen verschwinden mußte, weil er ein bißchen zu enthusiastisch gepredigt hatte.

Der Hund bewundert die Natur

Zu seiner Zeit sah es dort allerdings vollkommen anders aus. Die Landschaftsmaler der Düsseldorfer Schule haben wunderschöne Bilder einer weiten, sanften, bergigen Landschaft gemalt, aber die gab es seit 1849 nicht mehr. Man begann, in wirklich großem Stil Kalkstein abzubauen, schon nach zehn Jahren war das Tal nicht mehr wiederzuerkennen. Dieser Umweltskandal des 19. Jahrhunderts hatte nur einen positiven Nebeneffekt: 1856 fanden zwei italienische Steinbrucharbeiter in der Kleinen Feldhofer Grotte 16 Knochenfragmente, die sie erst verschwinden lassen wollten, aber als sie auch noch ein Schädelstück auftauchte, wurde ihnen mulmig. Der Betreiber des Steinbruchs war gebildet genug, um den Wuppertaler Naturforscher Johann Carl Fuhlrott zu Rate zu ziehen. Fuhlrott war nach seiner Untersuchung davon überzeugt, das Skelett eines Urzeitmenschen gefunden zu haben. Die Veröffentlichung seiner Theorie löste in Deutschland eine wüste Debatte aus, denn in der Wissenschaftswelt tobte gerade der Streit über Darwins Evolutionstheorie. Der arme Fuhlrott wurde diskreditiert und beschimpft; das hörte erst auf, als der Brite Charles Lyell Fuhlrotts Ergebnisse bestätigte.
Also hatte das Neandertal zwar seinen Ruf als Naturerlebnis verloren, war aber jetzt ein Ausflugsziel mit historischem Hintergrund. So kann's gehen mit dem Touismus!

Wisente sind nett und fluffig und immer von Bremsen umsaust, so ein bißchen wie der Saturn mit seinen Monden.

In meiner Kindheit gab es ein unfaßbar schnarchiges Neandertal- Museum, da wollte ich nie hinein. Aber das Wildgehege fand ich super. Seit 1935 werden hier rückgezüchtete Urtiere gehalten, und zwar Tarpane und Wisente. Früher durfte man die sogar streicheln, das gibt es heute selbstverständlich nicht mehr. Trotzdem lieben Kinder die "Auerochsen" mit den riesigen Schädeln und die nett guckenden "Urponys" immer noch. Meine Tochter wollte zu Weihnachten sogar eine Tierpatenschaft für einen Wisent haben: der Betreiber des Wildgeheges bietet so etwas an.

Kennt einer den Film "Hände weg von Mississippi"? Da wird ein Pferd mit einem Haarteil umgestylt, und genauso sehen Tarpane aus.

Das Neanderthal- Museum wurde nach einem Architektenwettbewerb 1993 neu gebaut. Der Entwurf der Architekten Kelp, Krauss und Brandlhuber bekam ein paar Preise -deswegen auch die Ausflüge mit den Architekturstudenten. Das Gebäude ist jetzt sozusagen eine Betonspirale mit Bauglas drum herum und hat eine tolle Atmosphäre. Der didaktische Teil ist vorbildlich und sehr beliebt bei Kindergeburtstagen und Schulausflügen, die Workshops richten sich aber an jüngere Besucher. Eine Klasse meiner Töchter war im sechsten Schuljahr da: sie fanden es langweilig, Schmuck aus Flintsteinen zu basteln. Das läßt übrigens auch Rückschlüsse darauf zu, mit wem man ins Neandertal fahren kann. Kleine Kinder und Erwachsene sind die Zielgruppe, Familienangehörige im Teenageralter schlurfen mit finsteren Minen herum und maulen, wenn das Handy keinen Empfang mehr hat. Ich weiß nicht einmal, ob es einen vernünftiges Snapchat-Logo für das Neandertal gibt.

Das Neanderthal- Museum in seiner ganzen Schönheit

Im und um das Neandertal gibt es ein ausgedehntes Netz an Wanderwegen, z.B. den Neandersteig, was hier in der Gegend ein Garant für vielfältige Wandermöglichkeiten ist. Man kann vom Spaziergang mit Omma und Oppa bis zur Sportwanderung alles machen. Die Wege sind gut ausgeschildert, wer es gerne anspruchsvoller mag, sollte sich trotzdem eine vernünftige Karte besorgen. Menschen mit unbezähmbarem Bewegungsdrang haben die Möglichkeit, hier bergauf und bergab Rad zu fahren, auch da gibt es tolle Wege (so sagt man).
Ich bin an einem sehr heißen Sommertag mit dem Hund im Neandertal unterwegs gewesen. Geparkt habe ich auf dem Parkplatz neben dem AWW- Seniorenheim (ist von der Ausfahrt der A 3 bis zum Neandertal gut ausgeschildert); man kann auch vor dem Museum parken, aber ich wollte ja ein wenig laufen. Von da aus geht es bergauf in Richtung einer kleinen Hofschaft, dann in den Wald und endlich wieder berab zum Wildgehege. Hinter dem Tarpanstall erschrak ich mich beinahe zu Tode: da lag ein Mensch im Mettmanner Bach! Erst als ich mich vorsichtig heranpirschte, konnte ich erkennen, dass es sich um eine Skulptur handelte. Hinter der Brücke klärte mich ein Schild auf: diese Skulptur ist Teil des Kunstweges Neandertal. Merke: wenn man sich von der falschen Seite nähert, muß man von alleine darauf kommen, dass es sich hier nicht um ein Verbrechen, sondern um Kunst handelt.

Der Horror im Bach!

Von da aus ist es nicht weit zum Museum. Am 1. Freitag im Monat kann man ab 14.00 Uhr mit Hund hinein, wenn man einem wissensdurstigen Hund etwas zur Evolution beibringen möchte. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite gibt es ein sehr schönes Café  mit Galerie und ein ebenso schönes Büdchen (woanders nennt man das wohl Imbiss mit Kiosk), je nachdem, ob man Kuchen oder Pommes auf die Hand möchte. Die eigentliche Fundstelle des Neandertalers ist etwas vom Museum entfernt und nicht ganz so super ausgeschildert. Man kann sich im Museum für den Besuch der wieder neu ausgegrabenen Kleinen Feldhofer Grotte Kopfhörer ausleihen, dann wird der Besuch interessanter. 
Dieser Service wird übrigens auch für den Kunstweg angeboten...

Früher waren Libellen ziemlich selten, bei diesem Spaziergang hat mich eine sogar beinahe umgeflogen.

Nach einer kleinen Pause habe ich den selben Weg zurück genommen. Es war wie schon gesagt ziemlich heiß, der Hund hatte keinen Bock mehr und zu Hause sollte es Gegrilltes geben, das dämpfte meinen Entdeckerdrang für diesen Tag. Ich habe insgesamt etwa zweieinhalb Stunden gebraucht. Für Kinderwagen und Rollatoren ist der Weg, den ich genommen habe, nicht zu empfehlen, dazu ist er teilweise zu steil und stufig, sonst gibt es keine Einschränkungen. 

Hohlweg mit motiviertem Hund

Man kann im Neandertal einen schönen Tag verbringen mit Bewegung für Körper und Geist. 
Was will man mehr?

Ist es noch Information oder schon Werbung?